Seit 1. Juli 2021 müssen Elektroautos mit einer Mindestlautstärke fahren
Elektroautos müssen ab 1. Juli 2021 künstliche Geräusche erzeugen. Die neue Mindestlautstärke soll Fussgänger und Velofahrende schützen. So weit, so gut – nur: Die betroffenen E-Fahrzeuge dürfen so laut sein wie Benziner. Das nutzen Hersteller und Händler gewohnt unverblümt zu Lasten des Lärmschutzes aus.
Bereits seit einem Jahr sind neue E-Auto-Modelle obligatorisch mit einem Lärmgenerator ausgerüstet – dem Acoustic Vehicle Alerting System (AVAS). Ab 1. Juli 2021 ist der Einbau des Warnsystems bei allen E-Autos obligatorisch. Es dient eigentlich dem Schutz der Fussgänger und Velofahrenden – und besonders der sehbehinderten Menschen.
In der Schweiz leben laut Schweizerischem Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) 377'000 sehbehinderte Personen. 50'000 von ihnen sind blind und können im Alltag kein Sehpotenzial nutzen. Der SBV setzt sich deshalb zu Recht für den Schutz dieser Menschen und für ihre Sicherheit im Strassenverkehr ein. Menschen mit Sehbehinderung hören leise Fahrzeuge zu wenig. Die NGO hat sich deshalb dafür stark gemacht, dass E-Fahrzeuge mit einem akustischen Warnsystem ausgerüstet werden.
AVAS soll aber auch Senioren, Kindern, Fussgängern und Velofahrenden helfen. Konkret geht es um einen Mindestschallpegel von 56 Dezibel. Das Warnsystem muss zum Schutz der Betroffenen nur bis zu dieser Lautstärke und bis zu einer Geschwindigkeit von 20 Stundenkilometern aktiviert sein. Danach erzeugen die Fahrzeuge mit dem Rollgeräusch der Reifen und dem Fahrtwind genügend vernehmbare Geräusche.
Kein Maximallärm für AVAS
Auch die Lärmliga Schweiz kann den Schutz sehbehinderter Personen im Strassenverkehr nachvollziehen. Gleichzeitig setzt sie sich für den Schutz der 1,1 Millionen Menschen ein, die in der Schweiz nach geltenden Grenzwerten durch Strassenlärm gesundheitlich beeinträchtigt sind. Laut BAFU wird der Schlaf bereits bei einer Lärmbelastung von 40 bis 50 Dezibel gestört. Aus Gesundheitssicht sind die geltenden Immissionsgrenzwerte also zu hoch.
Gemäss Magazin Saldo sind in der Schweiz sogar 3,7 Millionen Menschen betroffen, die tagsüber Strassenverkehrslärm von mindestens 55 Dezibel ausgesetzt sind. Nun: Ein Dezibel Mindestlautstärke (56 Dezibel) über der WHO-Empfehlung (55 Dezibel) für den Schutz sehbehinderter Menschen ruft die Lärmliga Schweiz nicht auf den Plan.
Das Problem: Die Verantwortlichen haben es geschafft, zwar einen Mindest-, aber keinen Maximallärm zu bestimmen. Das Magazin Saldo zitiert Thomas Rohrbach vom Bundesamt für Strassen: «Bei Geschwindigkeiten über 20 Stundenkilometern gelten die üblichen Lärmgrenzwerte für Strassenfahrzeuge.» Für E-Autos gilt also der maximale Geräuschpegel von 75 Dezibel. Eingehalten werden muss er nur im Prüfzyklus – unter 20 oder über 50 Stundenkilometern darf es lauter sein.
Autoindustrie dreht auf
Ab 1. Juli werden also auch Tesla & Co. mit ohrenbetäubendem Lärm unterwegs sein, wie wir es von Verbrennern mit Auspuffklappen kennen. Anstatt den Vorteil leiser E-Fahrzeuge für den Gesundheitsschutz zu nutzen, passiert das Gegenteil. Bekannt ist das Phänomen schon von kleinen, leichten Verbrennern, die an sich leise sein könnten, aber in Traktorenlautstärke herumfahren.
Bei solchen Wünschen ihrer Kunden kommt der Autoindustrie die neue AVAS-Regelung gerade recht. Die Hersteller werben bereits mit Soundsystemen, die mehr Lärm bei höherem Tempo machen. Oder mit einem Extra-Sound-Paket mit Lautsprechern an Heck und Türen. So verlautbart Audi: «Der unverwechselbare Klang bringt den Fahrzeugcharakter zum Ausdruck.» Und AMG erarbeitete laut Magazin Saldo ein Soundkonzept mit einer Heavy-Metal-Band.
Immerhin regt sich Widerstand gegenüber dieser erneuten Überheblichkeit von Herstellern, Händlern und Lenkern. Eine Interpellation vom 9. Juni 2021 hat zum Ziel, diese Fehlentwicklung zu stoppen. Ein Hoffnungsschimmer ist das Bekenntnis des Schweizer Parlaments, gegen übermässigen Strassenlärm vorzugehen. In der Debatte zur Motion «übermässigen Motorenlärm wirksam reduzieren» sagte Umweltministerin Simonetta Sommaruga: «Wir geben Hunderte von Millionen Franken zur Lärmbekämpfung und zum Lärmschutz in unserem Land aus. Hier geht es jetzt um den vermeidbaren übermässigen Lärm.» Bleibt zu hoffen, dass auch der designte Lärm der E-Fahrzeuge bald als vermeidbar und übermässig bekämpft wird.